Ein Produkt der  
Die grösste Wochenzeitung im Fricktal
fricktal info
Verlag: 
Mobus AG, 4332 Stein
  Inserate: 
Texte:
inserat@fricktal.info
redaktion@fricktal.info
Fricktalwetter
Leichter Regen
10.7 °C Luftfeuchtigkeit: 97%

Samstag
7.9 °C | 13.9 °C

Sonntag
6.7 °C | 15.8 °C

Ratgeber Psychologie 40 – 2022

Cora Burgdorfer
dipl. Psychologin
Oekum. Paarberatung Bezirke Brugg Laufenburg Rheinfelden
www.oekberatung.ch

Die Todesanzeige
Der Brief liegt auf meinem Praxistisch und das Couvert lässt mich schon erahnen, dass es eine Todesanzeige sein könnte. Ich öffne ihn bange und sehe das Foto einer Klientin. Völlig unerwartet trifft mich diese Nachricht. Was? Das darf doch nicht wahr sein! Zwar liegt das letzte Gespräch schon etwas zurück, aber die Klientin ist mir so lebendig in Erinnerung. Verzweifelt zwar in der letzten Sitzung, aber nein, das kann doch kein Suizid sein? Die Abschiedsworte lassen die Todesursache offen. Ich denke mir alle möglichen Todesarten aus. Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glauben. Sie hatte den gleichen Jahrgang wie ich. Noch nicht ganz 60 Jahre alt. Das ist doch kein Alter zum Sterben! So viel gelebtes Leben, so viele Erfahrungen, so viele Krisen, so viele Ressourcen. Und jetzt: fertig? Sie wird nie mehr meine Praxis betreten, wir werden nie mehr gemeinsam lachen, sie wird nie mehr sagen: «Das ist eine gute Frage, darüber muss ich nachdenken.» Sie wird mir fehlen. Ich nehme das Patienten-Dossier hervor und lese die Akten durch. Habe ich etwas übersehen, habe ich etwas verpasst? Hätte ich etwas tun können, etwas verhindern können, ihr mehr Mut machen sollen? Muss ich mir Vorwürfe machen, ein schlechtes Gewissen haben? Nein, sagt die professionelle Stimme in mir. Du kannst nichts aufhalten, nichts verhindern. Du bist nicht allmächtig. Und doch? Waren da nicht Anzeichen? Ich gehe nochmals die letzten Jahre durch und bleibe immer wieder hängen. Da gab es Abstürze, Krisen, dunkle Phasen. Aber auch Fortschritte und Zuversicht, eine neue Beziehung und berufliche Perspektiven.
Ich spüre, wie die Trauer langsam hochkriecht. Ich will das nicht. Ich will diese Trauer nicht, ich will diesen Abschied nicht. Ich will nicht auf diese Klientin verzichten. Das darf doch alles nicht wahr sein. Aber da steht es schwarz auf weiss. Ich lege das Dossier zur Seite, zum Ablegen. Die Todesanzeige stelle ich auf den Tisch. Soll ich nun eine Kerze dazustellen? Nein, das ist übertrieben. Es ist ja schliesslich nur eine Klientin, keine Freundin. Nur eine Klientin? Sie war ein Mensch, der mir über Jahre hinweg ihre innersten Gedanken mitgeteilt hat. Ich suche eine kleine Kerze und zünde sie an. Adieu und ruhe in Frieden!
Bei dieser Gelegenheit wird mir wieder einmal bewusst, wie speziell eine «therapeutische Beziehung» ist. Einseitig, denn ich weiss sehr viel über das Leben meiner Klienten und sie wissen fast gar nichts über meines. Manchmal werde ich gefragt, wo ich in den Ferien war, und manchmal rutscht mir ein: «Ja, das kenne ich!» über die Lippen, wenn Klienten von schlaflosen Nächten mit ihren kleinen Kindern erzählen. Wenn man die Wirkfaktoren von Therapien untersucht, steht an erster Stelle die therapeutische Beziehung. Die Qualität dieser Beziehung trägt ganz wesentlich zum Erfolg einer Therapie bei. Der Klient muss sich verstanden, akzeptiert und wertgeschätzt fühlen, die «Chemie» muss stimmen, denn nur so kann sich jemand öffnen und Vertrauen fassen. Die Haltung der Therapeutin soll immer unterstützend, positiv und zuversichtlich sein, wertfrei und nicht verurteilend. Viele Klienten sagen: «Es tut gut, mit jemandem zu sprechen, der sonst in meinem Leben nichts mit mir zu tun hat und neutral auf die Situation blickt.»
Die meisten Menschen kommen in eine Therapie, weil sie zwischenmenschliche Probleme haben, sei dies mit dem Partner, der Partnerin oder mit der Mutter, dem Kind oder der Schwiegermutter. Diese Beziehungskonflikte können in einem geschützten Rahmen erlebt, besprochen und bearbeitet werden und die Klientin kann so eine neue Beziehungserfahrung machen. Die Möglichkeit alles aussprechen zu dürfen, manchmal jahrelang Unterdrücktes, schafft eine sehr spezielle, vertrauliche Atmosphäre und auch ein Machtgefälle zwischen der Therapeutin und der Klientin. Darin liegt eine grosse Verantwortung. Diese Vertrautheit schafft keinen Raum für die Anbahnung einer persönlichen Beziehung, dafür ist jederzeit die Therapeutin verantwortlich. Die Beziehung bleibt strikt innerhalb des therapeutischen Kontextes. Die Therapie soll helfen, den eigenen Weg zu finden und nicht eine neue Abhängigkeit zu schaffen, der Therapeut ist auch kein «Retter».
Meine Gedanken kommen zurück und ich fühle Demut: Ich durfte die verstorbene Klientin kennenlernen und sie begleiten. Ich habe versucht, sie in ihrem Wesen zu erkennen und sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Wie immer am Ende einer Therapie bedanke ich mich für das Vertrauen und für die gemeinsam verbrachte Zeit. Und ich bin traurig.

Fragen richten Sie gerne an: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Weiterführende Informationen finden Sie unter www.oekberatung.ch