Für Velofreunde gibt es derzeit viel Spannendes zu erleben, ob auf der Tour de France oder der «Bike World», die unter dem Motto «Das Velo ist das Fortbewegungsmittel der Zukunft» steht. Das Bike wird zum genialen Transportgerät der Mobilität, im Sport, aber auch im Tourismus und Freizeitbereich. Man ist und bleibt in der Regel auf dem richtigen Weg. Es ist eine schöne Art zu reisen. Wir sind Velo, und ich bin ein Velofan.
KURT KOPP
Über den Winter habe ich die nächsten Touren vorausgeschaut, im Frühling auf die Kondition geschaut, im Sommer in der Natur herumgeschaut und im Spätherbst auf Vollbrachtes zurückgeschaut. Als Trampelnder älteren Jahrgangs erinnert man sich noch gerne an die Namen wie Beat Breu (den Bergfloh) oder Fritz Freuler (Mr. Moustache). Beide haben zur Popularität beigetragen, und beide hatten sicherlich auch Vorbilder wie etwa Van Impe (der Kletterer) und Roger de Vlaeminck (Mr. Paris – Roubais). Die beiden Schweizerrennen Tour de Romandie und Tour de Suisse werden praktisch allen Gümmelern in Erinnerung bleiben. Die Lombardei-Rundfahrt führt fast jedes Jahr an der seit 1948 geheiligten Stätte Madonna del Ghisallo vorbei. Diese jedem Radfahrer empfohlene Gedenkstätte weist draussen bereits darauf hin, wie nahe Sieg und Niederlage beieinander liegen. In der Kapelle findet jede Besucherin und jeder Besucher Originalrennräder, Tricots und viele Fotos.
Insgesamt gibt es mehr als 200 Rennen weltweit. Der Sport ist keine Sucht, es geht vielmehr um eine Sache. Da und dort liest man von Schweizertouren von früheren Zeiten – auf Naturstrassen. Reisen heisst erleben – und nicht Kilometer zurückzulegen. Es heisst sich umzusehen, alles Neue, ob klein oder gross, zu betrachten. Je rascher man reist, desto weniger erlebt man. Zu Fuss oder mit dem Rad reist man am ergiebigsten oder den Expeditionen am ähnlichsten. Warum hat eigentlich Michelangelo nicht das Fahrrad erfunden? Heute fliegt man zum Mars, aber der Drahtesel ist und bleibt das einzige Gerät, mit dem man aus eigener Kraft von A nach B kommt. Es dient der Lust und Freude, aber auch der Unlust und Aggression. Eine von einem Auto befahrene Strecke wird wirklich nicht wahrgenommen.
An Abenteuer und Nervenkitzel mangelt es in den Bergen nie. Auf der Kugler-Alm drohte das Bier auszugehen. Der clevere Wirt vermischte es kurz mit Zitronenlimonade, und schon war das Radler erfunden. Radeln ist ein Naturerlebnis, eine Freiheitsliebe mit Abenteuerlust, Fun und Romantik ideal vereint. Wer allen etwas vorausgedacht, wird jahrelang erst ausgelacht. Begreift man die Erfindung endlich, so dünkt sie jedem selbstverständlich.
Düfte und Gerüchte
Meine erste Tour begann südlich von Montreux via Caux in Sonchaux auf 1260 Metern über dem Meeresspiegel. Anfänglich stieg die noch geteerte Strasse zur Abzweigung, wo man wieder über einen Umweg via Haut de Caux zurückkehren kann. Es folgt eine Naturstrasse bis nach Le Creux à la Cierge, dann ein Wanderweg, der immer schmaler wird. Spannend allemal.
Ich erwarte die Grotte von Dentaux, die aber lässt auf sich warten. Immer wieder denke ich an ihren Schatten und deren Abkühlung. Sie kann nur links sein, denn rechts geht es schroff in die Tiefe. Ja, endlich: Der Eingang ist gross, und der Raum scheint gut mit mehreren Sitzplätzen eingeteilt zu sein. Ich spüre aber gleich die Kälte wegen des hohen Feuchtigkeitsgrads und sehne mich gleich wieder zur Sonne. Weiterzugehen getraue ich mich sowieso nicht. Eine genaue Abgrenzung der Begriffe Grotte und Höhle ist nicht möglich. Ich atmete ganz einfach Naturluft ein. Unser Geruchssinn kann unzählige Gerüche wahrnehmen, und das Gehirn speichert sie nachhaltig. Petrichor nennt sich der bekannte Geschmack, den wir beim einsetzenden Regen riechen. Der Duft von Heu, der Geruch der Erde oder von gesägtem Holz kennen praktisch alle. Der Weg führte über den Damm zum unbekannten Col de Sautodoz, nur eine halbe Stunde zu Fuss vom ganz grossen Rocher–de–Naye. Die Aussicht zum Genfersee ist gewaltig schön. Zurück in Sonchaux, schaue ich den Gleitschirmspringern zu. Sie werden von drei verschiedenen privaten Anbietern vom See hochgefahren. In der Nacht fühlte ich mich wohl in der Jugendherberge von Montreux.
Die nächste Tour erreichte ich über Bex und La Rijasse zum Col des Pauvres. In dieser Umgebung fällt auf, wie Nelken, Ranunkeln, Teufelsbärte und bunte Büschel aus leuchtenden rosa Rhododendren wachsen. Schlanke Tannen, die wie zugespitzt den Himmel anzugreifen scheinen, wie eine Reihe von Infanteristen, die in Bereitschaft stehen. Der Pass-Name Col des Pauvres verdient seinen Namen: Wenig Passagen, viele Steine, Geröll und Schutt, und der Weg schlängelt sich trotzdem durch. Pass der Jämmerlichen und der Bedürftigen. Pass der Armen.
Die Amsel und die Kröte
Sie trafen sich bei der Kirche. Die Amsel sagte: «He du, wollen wir nicht eine Wette abschliessen und sehen, wer zuerst auf den Pass kommt und Milch drinkt.» Die Kröte dachte sich: «Ich mache mich gleich auf den Weg, die Amsel ist ja mit drei Flügelschlägen oben. Ich aber!» Die Amsel sang aus vollem Halse. «Oh, wie schön, ich lege mich schlafen, mit drei Flügelschlägen bin ich oben. Du, Kröte, brauchst eine ganze Woche.» Die Kröte machte sich auf den Weg und hüpfte von einem Stein zum anderen. Am nächsten Morgen war sie schon auf dem Übergang und trank gemütlich von der Milch. Endlich flog die Amsel los: Vuff, vuff, vuff, und schon war sie auch oben. Die Kröte begann zu singen: «Quark, Quarark, ich hab schon getrunken den Quark.» «Ist denn das die Möglichkeit?», wunderte sich die Amsel. «Wer langsam geht, kommt weit», antwortete die Kröte : «Ich bin früher aufgebrochen und vor dir angekommen. Jetzt schau selber weiter!»
Ohne Schweiss kein Preis
Meine nächste Tour war schon lange geplant. Sie begann hinter Kemmeriboden Bad mit der Alpstrasse nach der Mirrenegg. Von dort aus gab es zwei Möglichkeiten nach dem Punkt auf 1495 Metern über dem Meeresspiegel. Ab dort folgt die zwar noch breite, aber steile Bergstrasse zum Wanderweg. Dieser erscheint mir beschwerlicher, als er aussieht. Die Aussicht aber belohnt einen total: Unter den Füssen liegt das Dorf Oberried rund 1330 Meter weiter unten am See. Die Blicke Richtung Brienz und zur Axalp mit dem Sattel nahe des Tschingelhorn entschädigen weiter. Dieser Übergang hat mir den Namen der diesjährigen Erzählung gegeben: Diese Fernsicht entzückt tatsächlich. Hier oben dachte ich mir: «Das ist doch ein Ort, wo Gott die Welt küsste.» Körperlich zwar anstrengend, aber lohnend und zufriedenstellend. Der Körper freut sich bereits auf die Erholung. Die Seele spannt hier ihre Flügel aus, so weit das Auge reicht. Im Geist lässt sich der ganze Genuss nachwirken. Der Berg lehrt einen Demut, Zähigkeit und Disziplin. Den Wannepass musste ich vergessen, weil er ganz als weiss-blauer Weg ausgeschildert ist, wo ja ein Radler gar nichts verloren hat.
Bed and Breakfast
Das Wort kommt aus dem englischen Sprachgebrauch und heisst Bett und Frühstück. Eine solche sehr nette Möglichkeit bietet sich bei der Familie Wicky nahe des Hilferenpasses. Dieser von Wiggen nach dem Dorf Flühli mit dem Auto nicht durchgehend befahrbare Pass ist wenige Meter höher gelegen als der mehrfach ausgezeichnete Bauernhof in Steinig–Dorbach. So sind zum Beispiel am Eingang viele Auszeichnungen für gute Milch vorhanden. Beim Essen erlebt der Besucher ein Maximum an Persönlichkeit. Man isst buchstäblich mit: So wurde ein Hörnli–Käse–Schinken–Auflauf mit Nachspeise serviert. Und was da einem alles auffällt: Von persönlichen Fotos über Spielsachen der Grosskinder zu den ältesten und neuesten Errungenschaften wie eine ganz neue Kaffeemaschine.
Beim Morgenessen, wiederum zu dritt, mit selbstgemachtem Brot und Butter und fünf verschiedenen, eigenen, wunderbaren Konfitüren in Gelée-Formen. Ein tilsiterähnlicher Käse war mir lieber als ein Tilsiter, und das einem Emmentaler gleichende Stück schmeckte mir besser als das Original. Der Ehemann besass auch die Fähigkeit, in Handarbeit die Zimmer wunderbar in Holz auszubauen. Die Ehefrau war weit redseliger als er. Der aber sagte: «Wir ergänzen uns.»
Bei Weglosen teils über weglose Wege
Südlich Einsiedeln erreichen wir Euthal, Unteriberg und Weglosen. Das ist ein wunderbares Gebiet zum Wandern und Bergvelofahren. In Chäseren liegt die einzige Hütte, wo man sich ausruhen und verpflegen kann. Der Chef kennt sich aus und verwöhnt jeden ruhigen Gast. Er hat genug von Überhöcklern, Zechprellern und dergleichen. Von der nicht ganz auf 1600 Metern über dem Meeresspiegel gelegenen Hütte erreicht man viele Ziele. Richtung Fidisberg und Chanzel liegen die wunderbaren Pässe Hinter Wannenhöchi und Ofenplangg. Zu beiden Zielen durchfährt man eine auf amerikanisch gemachte Rangerpforte mit dem eingeritzten Namen: Hinterofen. An beiden Seiten wurden Tierschädel angebracht. Auch auf der Hinterofenhöchi gefiel es mir sehr gut. Von oben konnte ich einer kirchlichen Versammlung bei der Chäseren–Kapelle wie im Massstab 1:300 zusehen. Himmlisch!
Der Weg zur Twäriberglücke war mit weiss-blau gekennzeichnet. Das Glück liegt in allem, was man gerade tut, und es gibt davon keine Mehrzahl. Unsere Vorstellung von der Welt beruht mehr auf Mutmassungen, Annahmen und Vorurteilen als auf einem klaren Blick auf die Wirklichkeit. Gefordert sind Wachheit, Spontaneität und Bereitschaft zum ständigen Wandel. Wenn man nachlässig ist, erteilt die Reise immer wieder eine neue Lektion in Aufmerksamkeit und Geduld. Reisen ist eine Betätigung, die unseren Horizont erweitert und bildet. Tourismus ist auch, es daheim wieder schön zu finden. Man braucht eigentlich nicht in die Welt zu gehen, weil sie auch zu einem kommt.
Trotzdem ist es immer wieder schön, in die Welt zu gehen.
Bild 1: Auf der Rückkehr von Col des Pauvres hoch über Bex, auf 2111 Metern über dem Meeresspiegel, genoss ich bei einem Bier nochmals die steile Rampe vom Refuge de la Rijasse aus.
Bild 2: Die Grotte von Les Dentaux liegt am Wanderweg zwischen En Sonchaux und dem Col de Sautodoz – oder zwischen Montreux und dem Rochers de Naye auf ca. 1700 Metern über dem Meeresspiegel. Sie ist nass, steil und glitschig wegen der Feuchtigkeit.
Bild 3: Blick von der Aellgäuw-Licke auf 1918 Metern über dem Meeresspiegel in Richtung Brienz. Vis-à vis liegt die Axalp. Hier hat der liebe Gott die Welt geküsst.
Bild 4: Durch diese amerikanisch anmutende Schranke von Hinterofen oberhalb von Weglosen (SZ), südlich von Einsiedeln, führt der Weg zu beiden Pässen Hintere Wannenhöchi und Ofenplangg.
Fotos: von Kurt Kopp zur Verfügung gestellt